Viertes Kapitel.

Der zweite Zahn im Getriebe.

[286] Am nächsten Morgen um sechs Uhr setzten die vier Touristen den Fuß auf den Kai, wo sie einen Führer und die von Morgan und Roger besorgten Pferde finden sollten. Hier erwartete sie eine wirkliche Überraschung.

Nicht, daß die Pferde nicht zur Stelle gewesen wären, nein, die hatten sich vielmehr merkwürdigerweise vervielfacht. Es waren ihrer fünfzehn, außer dem des Führers, der schon im Sattel saß.

Die Sache klärte sich jedoch bald von selbst auf. Mrs. Lindsay und ihre Begleiter sahen nacheinander Saunders, die Familie Hamilton und noch einige Passagiere eintreffen, darunter auch Tigg, dessen düstre Pläne man seit einigen Tagen ein wenig vergessen hatte.

Zum Glück machten sich nicht alle dieser Leichtfertigkeit schuldig. Die Misses Blockhead wenigstens beharrten bei ihrer samaritanischen Überwachung. Wer Tigg sah, der konnte sicher sein, auch sie zu sehen.

Und wirklich, selbst hier erschienen sie zehn Schritte hinter dem Gegenstande ihrer Fürsorge und vor ihrem Vater, der, wohl oder übel, den Launen seiner Töchter nachgeben mußte und jetzt mit Besorgnis die Gruppe der Reittiere besichtigte, aus der er sich das am meisten Vertrauen erweckende auswählte.

Offenbar war das Geheimnis des Ausflugs durchgesickert, und die intime Promenade hatte sich, zum Mißvergnügen der zwei Amerikanerinnen und der zwei Franzosen, zur Kavalkade erweitert.

Das Schicksal bereitete diesen aber noch eine weitre Unannehmlichkeit: als letzter und ganz allein kam unerwünschterweise noch Jack Lindsay als fünfzehnter Teilnehmer an. Wenn Dolly und Roger, als sie seiner gewahr wurden, nur das Gesicht verzogen, so rötete sich, freilich aus andern Gründen, die sie einander nur nicht gestanden, das Alicens und Morgans vor erklärlichem Zorn.

Jack setzte sich in den Sattel, ohne auf den kühlen und feindseligen Empfang, den er fand, besonders zu achten. Alle andern folgten seinem Beispiele ohne zu zögern, und in einem Augenblicke war die Karawane zum Aufbruch fertig.[286]

Doch nein, noch nicht vollständig. Einer der Teilnehmer war ganz atemlos geworden bei den oft wiederholten Versuchen, sein Pferd zu besteigen. Vergebens packte er dazu dessen Mähne oder hielt sich am Sattel fest, immer sank er wieder herunter, ein Besiegter in dem ungleichen Kampfe mit der Schwerkraft. Schwitzend und keuchend machte er die unglaublichsten Anstrengungen, sich aufzuschwingen, und dieses hochkomische Schauspiel schien die Zuschauer nicht wenig zu ergötzen.

»So nimm Dich doch zusammen, Papa! mahnte Miß Mary Blockhead mit dem Tone ermutigenden Vorwurfs.

– Ach was, Du, Du hast es gut, antwortete Absyrthus Blockhead mit mürrischer Stimme. Glaubst Du etwa, daß ich von geringem Gewichte bin? Und dazu frage ich Dich, ist das hier vielleicht mein angelernter Beruf? Ich bin doch kein Gardereiter, und habe alle solche Kracken schwer im Magen, das lasse Dir gesagt sein. Frei wie Gold, meine Tochter, frei wie Gold!«

Blockhead setzte dabei entschlossen beide Füße auf den Erdboden und trocknete sich die schweißbedeckte Stirn; auf keinen Fall wollte er neue und unnütze Versuche vornehmen.

Auf einen Wink Morgans kam der Führer dem unbeholfnen Touristen zu Hilfe. Der hißte den Mr. Blockhead aufs Pferd, bis er oben saß. Das war wohl etwas hastig geschehen, denn es fehlte nicht viel daran, daß der Reiter auf der andern Seite wieder hinunterfiel. Diesem Mißgeschicke entging er jedoch, und die Kavalkade konnte endlich in Bewegung kommen.

An der Spitze ritt der Führer, gleich hinter ihm hielten sich Morgan und Alice, und diesen folgten Roger und Dolly. Das dritte Glied wurde von Sir und Lady Hamilton verherrlicht, und im fünften ritt Tigg an der Seite Miß Margarets.

Wenn die Misses Blockhead diesen »Skandal« – wie sie es für sich nannten – auch nicht hatten verhindern können, so hatten sie wenigstens Vorsorge getroffen, die etwaigen Folgen davon abzuschwächen, und sie zernierten zu diesem Zwecke das alles Heilige schändende Paar. Im vierten Gliede drängte Beß sich Saunders als Gesellschafterin auf, und im sechsten tröstete Mary ihren unglücklichen Vater, der sich, mit stieren Augen und die Hände in die Mähne des Pferdes gewickelt, willenlos dahintragen ließ und dem Tage fluchte, an dem er geboren war. Bei dieser Anordnung konnte sich das Paar einer fortwährenden Überwachung nicht entziehen. Vor und hinter ihm schnappten lauschende Ohren seine Worte auf,[287] scharfe Augen würden sich jede Schwäche der – doch ganz unschuldigen – Gegnerin zunutze machen, und dann würden die Schwestern sofort den augenblicklich verlornen Platz wieder besetzen.

Als letzter der Touristen trottete Jack Lindsay schweigend und wie gewöhnlich allein dem kleinen Reiterzuge nach. Von Zeit zu Zeit flog sein Blick über die Reihe seiner Gefährten hin und haftete eine Sekunde auf dem jungen Paare des ersten Gliedes. Dann leuchteten seine, schnell wieder abgewendeten Augen unheimlich auf.

Morgan erriet diese Blicke, ohne sie selbst zu sehen. Gerade die Mitanwesenheit Jacks war es gewesen, die ihn mit dumpfer Unruhe erfüllte und ihn bestimmt hatte, den jetzt von ihm innegehabten Platz einzunehmen. Wäre Jack Lindsay nicht dagewesen, so würde Morgan sich in das letzte Glied des kleinen Trupps eingereiht haben.

Doch noch ein andrer Grund hatte dafür vorgelegen, daß er sich an die Spitze des Zuges setzte. Ein unklares Gefühl spornte ihn an, den Führer im Auge zu behalten, der ihm ein gewisses Mißtrauen einflößte, wenn dessen Verhalten bisher auch nichts Anstößiges gezeigt hatte. Morgan erkannte an ihm aber etwas Heimtückisches, die Kennzeichen eines zu allem bereiten Burschen, und er hatte beschlossen, ihn streng zu beobachten, um gleich eingreifen zu können, wenn eine Handlung des zeitweilig angeworbnen Dieners im Verlaufe des Ausflugs seine Vermutungen rechtfertigen sollte.

Im übrigen mißbrauchte er in keiner Weise die Lage, in die der Zufall ihn versetzt hatte. Ohne kalt zu erscheinen, sprach er nur das Notwendigste. Eben jetzt hatte er, nach einigen Bemerkungen über das herrliche Wetter, stillgeschwiegen, und Alice unterbrach auch nicht das Schweigen, das nach ihrem Geschmack zu sein schien. Freilich: Morgans Augen, die sich nicht so gebunden fühlten wie seine Zunge, sprachen für diese destomehr und wandten sich immer und immer wieder dem seinen Profile seiner Begleiterin zu.


Jack trottete allein dem kleinen Reiterzuge nach. (S. 288.)
Jack trottete allein dem kleinen Reiterzuge nach. (S. 288.)

Trotz dieses Schweigens wuchs die Vertraulichkeit im Grunde ihrer Seelen doch gleichmäßig weiter. In der lauen Morgenluft so Seite an Seite zu reiten und dabei wie unwillkürlich flüchtige Blicke auszutauschen, das empfanden die beiden jungen Leute als ein wohligsüßes Glück. Ein unkörperlicher Magnet zog ihre Herzen einander näher. Sie erlernten die wunderbare Sprache des Schweigens, und bei jedem Schritte vernahmen und verstanden sie immer besser die Worte, die sie nicht ausgesprochen hatten.[288]

Schnell durchzog die Gesellschaft den Nordwesten von Las Palmas, das zurzeit noch kaum aufgewacht war. Kaum eine Stunde nach dem Aufbruche trabten die Pferde auf einer der vorzüglichen, von der Stadt ausstrahlenden Straßen hin. Die der man folgte begann wie eine Allee mit zwei Reihen im Grün versteckter Villen. Alle Arten von Pflanzen prangten in üppigem Gedeihen in deren Gärten, wo schlanke Palmen ihr wedelgeschmücktes Haupt hin- und herwiegten.

Auf dem recht belebten Wege kreuzten viele Bauern den Zug der Reisenden. Auf Kamelen hockend, deren Zucht auf den Kanarien überraschend gut geglückt ist, brachten sie die Erzeugnisse ihres Landes in die Stadt. Trotz auffallender Hagerkeit und geringer Größe, aber mit großen dunkeln Augen, die aus einem Gesicht mit regelmäßigen Zügen leuchteten, fehlte es den Leuten nicht an einer gewissen angebornen Vornehmheit.

Je weiter der Ritt führte, desto mehr zog sich die Kavalkade auseinander. Zwischen den einzelnen Gliedern entstanden verschiedengroße Lücken. Bald trennten wohl zweihundert Meter Alicen und Morgan von Jack Lindsay, der sich noch immer am Ende des Zuges hielt.

Von seinem Platze aus beobachtete dieser das vorderste Paar, und allmählich erfüllte sich da sein Herz mit zunehmendem Grolle. Der Haß hat ja scharfe Augen, und Jack Lindsay haßte gründlich. Nicht eine der kleinen Aufmerksamkeiten Morgans gegen seine Nachbarin entging dem eifrigen Spione. Er faßte im Nu den geringsten Blick auf und verdeutlichte sich dessen instinktive Süßigkeit, ja er erriet fast die Worte der beiden, und nach und nach ging ihm über deren Verhältnisse ein klares Licht auf.

Um seiner selbst willen widmete dieser erbärmliche Dolmetscher also seiner Schwägerin diese zärtliche Fürsorge, und diese schien auch auf den plumpen Köder anzubeißen. Sollte die, die ihm schon fern stand, als ihr Herz noch frei war, jetzt, wo sie einen andern liebte, nicht geradezu zu seiner Feindin werden?

Als er diese Gedanken erwog, wollte er vor Wut fast ersticken. Hatte er durch seine Torheit nicht für den Intriganten, der an seine Stelle getreten war, erst die Kastanien aus dem Feuer geholt? Würde der ebenso leichtes Spiel gehabt haben, wenn er, als er seiner gefährdeten Schwägerin die Hand entgegenstreckte, das Eingreifen eines andern, der eigne Interessen verfolgte, verhindert hätte?

Ja, diesen Rivalen hatte er sich selbst erschaffen, und welchen Rivalen! Unterrichtet von allem, was sich im Curral das Freias zugetragen hatte, war[291] sich Robert Morgan, der sich ihm gegenüber bis zur Drohung hatte hinreißen lassen, seiner Macht über ihn selbstverständlich bewußt.

Daß er diese Drohungen schon wahr gemacht hätte, war jedoch sehr zweifelhaft. Bisher berechtigte Jack in Alice Lindsays Benehmen nichts zu dem Glauben, daß sie jetzt weiter unterrichtet wäre als an dem Tage, wo sich der bewußte Vorgang an jenem Bergstrome abspielte. Was freilich jetzt noch nicht der Fall war, konnte ja später zutreffen, und vielleicht erfuhr Alice in diesem Augenblicke die von ihm so gefürchtete Wahrheit.

Das war eine Gefahr, die wie das Schwert am Faden Jack über dem Kopfe hing, und für diese Gefahr gab es keine andre Abwehr als... die Vernichtung des furchtbaren, einzigen Zeugen.

Leider war Robert Morgan nicht der Mann, mit dem sich so leicht fertig werden läßt. Jack konnte nicht verkennen, daß er im offnen Kampfe mit ihm wenig Aussicht hätte, daraus als Sieger hervorzugehen. Nein, er mußte anders handeln, und sich mehr auf Hinterlist als auf Kühnheit und Mut verlassen. Doch selbst zu einer versteckten Untat entschlossen, wäre für ihn angesichts der fünfzehn Touristen schwerlich dazu Gelegenheit gewesen.

Jack Lindsay suchte sich also nach und nach ein neues Opfer. Augenblicklich wenigstens sah er von Alice gänzlich ab und wendete seinen Haß ausschließlich Morgan zu. Der war der zweite Zahn in seinem Getriebe. Wohl fühlte er sich schon, wenn auch nur als untätigen Mörder seiner Schwägerin, jetzt aber fing er an, die überlegte Ermordung Morgans zu planen, obwohl er vorläufig den beiden von ihm tödlich gehaßten jungen Leuten gegenüber zur Ohnmacht verurteilt war.

Inzwischen vergaßen diese, von ganz andern Gedanken und Gefühlen erfüllt, seiner gänzlich. Während in ihm die Wut immer mehr kochte, fing in ihren Herzen die Liebe an, immer wärmer zu werden.

Wenn sich der Zug der Ausflügler außerhalb von Las Palmas im ganzen sehr gelockert hatte, so waren doch wenigstens drei Glieder als geschlossenes Peloton beisammen geblieben, und der von allen Seiten belagerte Tigg hätte kein Mittel sehen können, seinen aufmerksamen Wächterinnen zu entschlüpfen. Eine Beute ihres dumpfen Zornes, ließen ihn die Misses Blockhead sich nicht um eine Nasenlänge von sich entfernen. In ihrer Erregung trieb Miß Mary ihr Pferd einmal so an, daß es an das der Miß Margaret anstieß. Da regnete es freilich einige »Passen Sie doch besser auf!« und »Ich bin ja aufmerksam!«[292] mit spitzer Zunge zwischen den beiden Damen, ohne daß dadurch eine Veränderung der gegenseitigen Stellung der Streitenden herbeigeführt wurde.

Die Landschaft, durch die der Spazierritt führte, war recht fruchtbar und gut angebaut. Felder folgten auf Felder, bedeckt mit allen Bodenprodukten Europas und der Tropenzone, vor allem mit ausgedehnten Anpflanzungen der Nopalpflanze (der Cochenillekakteen).

Wenn die Kanarier nicht gerade begeisterte Bewunderer des Minotaurus' »Fortschritt« waren, so darf das doch nicht wundernehmen. Früher ausschließlich mit dem Anbau des Zuckerrohrs beschäftigt, hatte die Erfindung des Rübenzuckers sie um die Frucht ihrer Mühen betrogen. Unentmutigt bedeckten sie da ihr Land mit Weingärten, sofort überfiel sie aber die Phylloxera, die Geißel, gegen die alle gelehrten Fakultäten noch kein Arzneimittel gefunden haben. Zum dritten Male ruiniert, ersetzten sie die dem Bacchus heilige Rebe mit der Anpflanzung des Nopalkaktus und wurden in kurzer Zeit zu den wichtigsten Lieferanten der kostbaren Insektenfarbe. Die Wissenschaft aber, die ihnen ihr Zuckerrohr geraubt hatte, dieselbe Wissenschaft, die nicht verstanden hatte, sie gegen den mikroskopischen Feind des Weinstockes zu schützen, greift sie sofort bei ihrem neuen Unternehmen herzlos an. Sie wirft die aus dem Anilin abgeleiteten chemischen Farbstoffe auf den Markt und bedroht die unglücklichen Cochenillezüchter mit dem letzten, schon sehr nahen Unheile.

Die Zahl der Wechsel, die ihre Kulturen erlitten haben, zeugen jedenfalls von dem unternehmungsfrohen Geiste der Bewohner. Sicherlich würde auch nichts ihrer geduldigen Arbeit unerreichbar sein, wenn sie nicht mit einer außerordentlichen Trockenheit des Klimas zu kämpfen hätten. In dem von der Sonne ausgedörrten Lande, dem der Himmel oft wochen- und monate-, zuweilen jahrelang keinen Tropfen Regen spendet, wird die Trockenheit zu einer wahren Kalamität. Welch sinnreiche Anstrengungen haben sie gemacht, sich dagegen zu schützen! Ihr gesamtes anbaufähiges Land bedeckt ein Netz von Wasserleitungen, die das ersehnte Naß den Tälern von den Bergeshöhen aus zuführen. Überall sind neben den Nopalpflanzen und den Aloes kleine Vertiefungen hergestellt, woraus deren breite, fleischige Blätter die Feuchtigkeit der Nacht in Form eines weißen Gelees aufsaugen, das von den ersten Sonnenstrahlen verflüssigt wird.

Gegen acht Uhr gelangte die Kavalkade in ein großes Euphorbiengehölz. Die Straße verlief in gleichbleibender Steigung wie zwischen zwei Hecken dieser stachligen, vielfach verdrehten Gewächse von fremdartigem, unschönem Aussehen,[293] deren Saft ein tödliches Gift bildet. Je höher man aber hinauskam, machte diese Euphorbia canariensis der minder widerwärtigen Euphorbia balsamifera Platz, deren glänzende, mehr glatte Außenhaut nur eine weniger gefährliche Milch absondert, die bei der geringsten Berührung bis drei Meter weit hinausspritzt.

Eine halbe Stunde später erreichte die Gesellschaft den Gipfel der Caldeira de Bandana, eines ganz runden und zweihundertdreißig Meter tiefen Kraters, auf dessen Grunde sich eine Farm und einige Felder befinden.

Im Vorübergehen wurde dann die Cima de Giramar besucht, ein andrer, aber längst ausgefüllter Krater, der nur noch eine grundlose Esse aufweist, in die die Touristen sich belustigen, Steine zu werfen, welche ein seltsames Echo erweckten, und gegen elf Uhr kamen die Reiter endlich nach Saint-Laurent, einem Flecken mit zweitausend Einwohnern, wo der Führer versicherte, daß hier ein Frühstück zu finden wäre.

Man fand auch ein solches, doch unter der Bedingung, daß man sich nicht wählerisch zeigte. Bei einem großen Reichtum an Früchten fehlt es Samt-Laurent sonst leider an Hilfsquellen andrer Art. Es war ein großes Glück, daß die freie Luft den Appetit der Tischgenossen gehörig geschärft hatte, so daß sie selbst noch dem »Gosio«, der als Hauptgericht paradierte, einigermaßen Geschmack abgewannen. Der Gosio ist eine Art Brei aus Gersten- oder Weizenmehl, der mit Milch verdünnt genossen wird; er ist ein Nationalgericht, aber ein abscheuliches Vergnügen. Da nun Hunger ja der beste Koch ist, wurde der Brei immerhin ohne Widerspruch verzehrt; nur der nie zu befriedigende Saunders schrieb in sein Notizbuch zur Erinnerung »Gosio« ein. Ihm Gosio vorzusetzen! Nein, das verlangte mindestens hundert Pfund als Schadloshaltung.

Nach beendigtem Frühstück stieg die Gesellschaft wieder in den Sattel. Die Marschordnung hatte jedoch einige Veränderung erfahren. Unter anderm zählte eines der Glieder jetzt drei Reiter: Tigg und die beiden aufmerksamen Wächterinnen.

Dank einem klugen Manöver war Miß Margaret Hamilton schimpflich verdrängt worden und ritt von nun an, so wie Absyrthus Blockhead, allein, während ihre siegreichen Rivalinnen sich in ihrem Erfolge sonnten.

Diese Revolution war aber nicht ohne Kampf vorübergegangen. Als Margaret nach Besteigung ihres Pferdes bemerkte, daß ihr voriger Platz schon eingenommen war, konnte sie sich nicht enthalten, dagegen ernstlich Einspruch zu erheben.[294]

»Aber mein Fräulein, sagte sie äußerlich gleichgültig, sich zu den beiden Schwestern wendend, ich glaube, das ist mein Platz!

– Wem von uns erweisen Sie die seltne Ehre..., hatte Miß Beß mit scharfer Stimme angefangen.

... das Wort an uns zu richten, mein Fräulein? vollendete Miß Mary den Satz ebenso spitzig.

– Ihr Platz ist doch nicht...

–... numeriert, meine ich!«

Tigg hatte nichts gehört von dem gedämpften Wortwechsel, und da er also nichts von dem um seinetwillen entbrannten Kriege wußte, ließ er mit gewohnter liebenswürdiger Nachgiebigkeit mit sich machen, was die andern wollten, zufrieden, doch allemal verhätschelt zu werden.

Noch eine zweite Veränderung war mit der ursprünglichen Reihenfolge der Ausflügler vor sich gegangen.

Jack Lindsay hatte sich von der Nachhut in die Avantgarde versetzt, noch vor seine Schwägerin, die Robert Morgan wie vorher begleitete. Er ritt jetzt neben dem kanarischen Führer, mit dem er ein lebhaftes Gespräch zu unterhalten schien.

Dieser Umstand erregte schon etwas die Neugier Morgans. Der Führer verstand also englisch? Das Gespräch zog sich in die Länge, und zu Morgans Ungeduld gesellte sich bald eine unbestimmte Unruhe, besonders da es Jack Lindsay, jedenfalls wegen indiskreter Ohren bange, vermied, in nächster Nähe zu bleiben und er sich mit dem Kanarier immer hundert Meter vor den ersten Touristen hielt. Was konnte dieser Passagier, den zu beargwöhnen Morgan alle Ursache hatte, wohl mit dem so beunruhigende Manieren verratenden Eingebornen verabreden? Das war eine Frage, worauf Morgan keine befriedigende Antwort fand.

Er war schon auf dem Punkte, seinen Verdacht seiner Begleiterin mitzuteilen. So wie Jack richtig angenommen hatte, war Morgan aber auch jetzt noch nicht willig, seine Drohung wahr zu machen. Mrs. Lindsay wußte nichts. Er hatte immer gezögert, die junge Frau durch solche Mitteilungen zu beunruhigen, zuzugestehen, daß er in eine so delikate Geschichte eingeweiht war, und im Vertrauen auf die hinreichende Wirksamkeit seiner Überwachung hatte er bisher stillgeschwiegen. Auch jetzt wich er noch einmal davor zurück, das so heikle Thema anzuschneiden, und beschloß nur, desto schärfer zu wachen.[295]

In weniger als drei Stunden kam die Gesellschaft nach Gualdar, der Residenz der alten Könige der Berber an der Nordwestküste der Insel, und nachdem auf dem Rückwege der kleine Flecken Agaëte passiert worden war, traf sie gegen fünf Uhr in Artenara ein.

Das Dorf Artenara, das sich an den innern Abhang des Kessels von Tejeda in einer zwölfhundert Meter übersteigenden Höhe anschmiegt, ist das höchstgelegne der ganzen Insel. Von hier aus bietet sich eine entzückende Aussicht. Der kreisförmige Platz ohne eine Erdsenkung und ohne einen einzigen Riß in seiner Wand zeigt dem erstaunten Auge seinen elliptischen Umkreis von fünfunddreißig Kilometern, von dem nach der Mitte zu sich Bäche zwischen Ketten von bewaldeten Hügeln hinschlängeln, während sich verschiedene Weiler unter dem Grün verstecken.

Das Dorf selbst ist sehr merkwürdig. Von Kohlenbrennern bevölkert, die, wenn man nicht Ordnung geschaffen hätte, bald die ganze Insel der letzten Reste der Vegetation beraubt hätten, ist Artenara eine Wohnstätte von Troglodyten. Nur der Turm der Kirche ragt hier in die Luft empor, die Wohnungen der Menschen aber sind in der Kesselwand ausgehöhlt. Sie liegen da eine über der andern und erhalten einiges Licht durch leere Öffnungen, die die Rolle der Fenster spielen. Der Fußboden der Wohnungen ist mit Matten bedeckt, worauf sich die Bewohner, um zu essen, niederkauern. Was andre Sitzgelegenheiten und Lagerstätten betrifft, hat die Natur dafür die Kosten tragen müssen, und die findigen Kanarier haben sich darauf beschränkt, diese gleich aus dem Tuffstein auszumeißeln.

Die Nacht in Artenara zuzubringen, davon konnte keine Rede sein, das Unterkommen bei diesen Troglodyten wäre doch gar zu mangelhaft gewesen. Man entschloß sich deshalb also zu einem weitern, einstündigen Marsch und erreichte gegen sechs Uhr endlich Tejeda, einen kleinen Flecken, der dem Kessel seinen Namen verliehen hat.

Es war auch die höchste Zeit. Einige der Touristen konnten nicht mehr; vorzüglich für die drei Blockheads wäre eine Verlängerung des Weges rein unmöglich auszuhalten gewesen. Abwechselnd gelb, grün und weiß aussehend, hätten Miß Mary und Miß Beß geradezu eine Heldenseele haben müssen, die ihnen von ihrer Menschenfreundlichkeit auferlegte Pflicht noch weiter zu erfüllen. Wie viele schmerzliche Aufschreie hatten sie schon ersticken müssen bei den Stößen, die sie von ihren Reittieren erlitten!Doch welchen Seufzer der Erleichterung ließen sie vernehmen, als der Hafen, d. h. die Herberge, endlich erreicht war, deren Wirt die ungewöhnliche Menge von Gästen höchst bestürzt anstarrte.

Ja, es war eine Herberge. nichts andres als eine solche, wohin der kanarische Führer den Zug der Touristen gebracht hatte. Da sie ihm genügte, mochte er geglaubt haben, daß sie auch den andern genügen müßte, und er begriff gar nicht die mürrischen Gesichter, die sein Signal zum Anhalten beantworteten. Jedenfalls war es aber zu spät, etwas dagegen zu tun. Da es in Tejeda nichts Besseres als diese Herberge gab, mußte man wohl oder übel damit zufrieden sein.


Caldeira de Bandana.
Caldeira de Bandana.

So manches war hier aber noch schlimmer als der äußere Schein. Die fünfzehn Touristen bekamen zwar zu essen, doch wieder nur einen abscheulichen Gosio; nochmals die Veranlassung zu einer neuen Anmerkung im Notizbuche des Mr. Saunders.

Wenn es nun mit Aufbietung alles Scharfsinns auch gelang, für die Damen ein halbwegs annehmbares Unterkommen zu finden, so mußten sich doch die Herren, in Mäntel, Decken, selbst in Säcke eingehüllt, mit dem Fußboden der Stuben oder auch mit dem Grase unter freiem Himmel als Lagerstätten abzufinden suchen.

Wohl ist das Klima der Kanarischen Inseln sehr mild, dennoch herrscht bei Sonnenaufgang hier stets eine gewisse Morgenfrische, bei der man sich recht leicht einen Rheumatismus holen kann. Dem Sir Hamilton sollte die Kenntnis dieses geographischen Details nicht vorenthalten bleiben: gegen Morgen erwachte er mit heftigen Gelenkschmerzen, so daß er sich tüchtig frottieren mußte, was nun freilich nicht ohne greuliche Verwünschungen des niederträchtigen Thompson abging, dem er all dieses Ungemach verdankte.

Saunders betrachtete ihn inzwischen mit neidischem Blicke: er hätte sich selbst so gern der gleichen Beschäftigung hingegeben. Was hätte er nicht darum gegeben, jetzt am eignen Leibe einen anomalen Schmerz zu empfinden! Wie gut würde er das später gegen Thompson ausgenützt haben! Und Saunders untersuchte seine Gelenke, ließ sie knacken, bog sie hin und her und verrenkte sich so viel er konnte. Vergebliche Mühe. Seinem gleich einer Kette knotigen Körper konnte, wie er sich griesgrämig zugestehen mußte, jenes Übel nun einmal nichts anhaben. Immerhin unterließ er es nicht, seinem Notizbuche eine Bemerkung betreffs des Leidens seines Gefährten einzuverbleiben.
[299]

Agaëte.
Agaëte.

Rheumatismus hatte er zwar nicht, er hätte ihn sich aber doch zuziehen können, da das ja beim Baronet der Fall gewesen war, und er meinte, daß die Gefahr, die auch ihn bedroht hatte, im Munde eines vigilanten Advokaten nicht zu verachten sein könnte.

Die Misses Blockhead hatten zwar recht warm geschlafen, und dennoch schienen sie am folgenden Morgen recht krank zu sein. Mit steifen Gliedern und schmerzvoll verzognem Munde bewegten sie sich nur sehr langsam dahin und stützten sich dabei an alles, was ihnen zur Hand war, an Möbel, Mauern oder Personen. Tigg, der sich zuerst nach ihrem Befinden erkundigte, erkannte auf den ersten Blick, daß die Misses Blockhead an... Hüftweh litten.

Der Aufbruch konnte jedoch nicht verschoben werden. Die beiden Opfer der Barmherzigkeit wurden mit Ach und Krach und trotz ihrer herzzerreißenden Seufzer in den Sattel bugsiert, und dann setzte sich die ganze Karawane in Bewegung.

Da machte Morgan eine merkwürdige Beobachtung. Während die andern Pferde der Gesellschaft sorgfältig gebürstet und gestriegelt und durch die Nachtruhe von der Anstrengung des vorigen Tages vollkommen erholt aussahen, schienen die des eingebornen Führers und Jack Lindsays im Gegenteil vor Ermüdung ganz erschlafft zu sein.


Tejeda.
Tejeda.

Wenn man das Gemisch von Staub und Schweiß auf ihrem Felle sah, hätte man wohl darauf geschworen, daß sie in der Nacht einen langen Weg in schneller Gangart zurückgelegt haben mußten.

Da sich das aber ohne eine unmittelbare Frage nicht nachweisen ließ, behielt Morgan den plötzlich vor ihm aufgetauchten Verdacht für sich.

Wenn Jack Lindsay übrigens mit dem Führer irgendwelches Komplott geschmiedet hatte, war es doch zu spät, dem wirksam entgegenzutreten. Die beiden vermeintlichen Komplicen hatten einander nichts mehr zu sagen. Während der eine an der Spitze des Zuges auf seinem Posten blieb, hatte der andre seinen frühern Platz wieder an dessen Ende eingenommen.

Er bildete hier aber nicht die Nachhut, denn Mr. Absyrthus Blockhead und seine angenehmen Töchter ritten noch hinter ihm.

Die Misses Blockhead befanden sich hier in grausamer Lage. Während die Nächstenliebe sie nach weiter vorn trieb, zwangen sie stehende Schmerzen, ihre Gangart mehr und mehr zu verlangsamen. Trotz Aufwandes aller Energie, entzog sich Tigg nach und nach ihrer mangelhaften Überwachung, und bald mußten die beiden Schwestern, jetzt hundert Meter hinter den letzten Touristen, wo sie sich krampfhaft am Sattelknopf festhielten, die Wahrnehmung machen, daß ihre verhaßte Rivalin ihnen den Rang abgelaufen hatte.

Da die kleine Truppe frühzeitig aufgebrochen war, erreichte sie auch noch zeitig den Abgrund von Tirjana. Der Weg dringt durch einen engen Spalt der westlichen Wand in diesen alten Krater ein und führt mit vielen Windungen an der östlichen Wand wieder hinauf.

Schon längere Zeit klommen die Reiter unter großen Beschwerden bergauf, als sich der Weg gabelförmig teilte und in zwei fast parallelen Richtungen, einen sehr spitzen Winkel bildend, weiter verlief.

Alice und Morgan, die das erste Glied des Zuges bildeten, parierten ihre Pferde und sahen sich nach dem eingebornen Führer um.

Der Führer war verschwunden.

In kürzester Zeit hatten sich alle Touristen an der Weggabelung versammelt, wo sie in lärmender Gruppe erregt den auffälligen Zwischenfall erörterten.

Während seine Begleiter aber viele Worte machten, dachte Morgan schweigend über die Sache nach. Bildete dieses Verschwinden nicht den Anfang des von ihm geahnten Komplotts? Von weitem beobachtete er Jack Lindsay,[303] der aber die Verwunderung der andern aufrichtig zu teilen schien. Nichts in seiner Haltung war geeignet, den Verdacht zu bestärken, der im Innern des Dolmetschers der »Seamew« immer deutlicher aufstieg.

Jedenfalls mußte dieser, bevor er ein Wort äußerte, dennoch warten. Die Abwesenheit des Führers konnte ja auch einen weit unschuldigern Grund haben, und vielleicht kam der Mann ganz ruhig zurück.

Es verging aber eine halbe Stunde, ohne daß er sich wieder blicken ließ, und die Touristen singen allgemach an, ungeduldig zu werden. Was zum Teufel, sie könnten doch hier auf der Stelle nicht wie angewurzelt stehen bleiben! Bei der vorhandnen Ungewißheit galt es nur, sich für einen der beiden Wege zu entscheiden.

»Vielleicht, meinte Jack Lindsay – er hatte seine Gründe dafür – möchte es sich empfehlen, daß einer von uns etwa tausend Meter auf einem der Wege hinausritte, wodurch wir über dessen Hauptrichtung aufgeklärt würden. Die übrigen könnten hier bleiben und den Führer abwarten, der ja jedenfalls noch wiederkommen kann.

– Sie haben recht, stimmte ihm Morgan, dem natürlich die Rolle des Plänklers zufiel, mit einem forschenden Blicke auf Jack Lindsay zu. Welchen Weg glauben Sie, daß ich einschlagen sollte?«

Jack lehnte die Entscheidung hierüber mit einer Handbewegung ab.

»Vielleicht den hier? fragte ihn Robert weiter, indem er nach dem rechts verlaufenden Wege wies.

– Ganz wie Sie denken, erwiderte Jack gleichgültig.

– Gut, so mag der es sein.« erklärte Morgan, während Jack die Augen abwendete, worin gegen seinen Willen ein freudiger Blick aufleuchtete.

Ehe er sich aufmachte, nahm Morgan jedoch seinen Landsmann Roger de Sorgues beiseite und empfahl ihm die größte Aufmerksamkeit.

»Gewisse Tatsachen, sagte er der Hauptsache nach zu ihm, und vor allem das unerklärliche Verschwinden des Führers, lassen mich einen Hinterhalt befürchten. Seien Sie also sorglich auf der Hut.

– Nun, aber Sie selbst? entgegnete Roger.

– O, erwiderte Morgan, wenn hier ein Uberfall geplant sein sollte, würde er schwerlich mir gelten. Ubrigens werde ich mich schon in acht nehmen.«

Nach dieser mit gedämpfter Stimme erteilten Empfehlung ritt Morgan auf der von ihm selbst gewählten Straße davon, und die Touristen blieben wartend zurück.[304]

Die ersten zehn Minuten vergingen ihnen schnell genug; es bedurfte doch immer einiger Zeit, den Weg einen Kilometer weit auf trabendem Pferde zu untersuchen.

Die nächsten zehn Minuten kamen ihnen schon weit länger vor, und mit jeder erschien das Ausbleiben Morgans immer auffallender. Bei der zwanzigsten konnte sich Roger nicht mehr halten.

»Wir können unmöglich noch länger warten, erklärte er bestimmt. Das Verschwinden des Führers deutet mir auf nichts Gutes, und ich bin überzeugt,[305] daß Herrn Morgan irgend etwas zugestoßen ist. Ich wenigstens, ich werde ihm ohne Zögern entgegengehen.

– Wir gehen mit Ihnen, m eine Schwester und ich, sagte Alice mit fester Stimme.


Mr. Absyrthus Blockhead ließ den Hals seines edlen Renners los. (S. 308.)
Mr. Absyrthus Blockhead ließ den Hals seines edlen Renners los. (S. 308.)

– Wir gehen alle mit!« erschallte es da einstimmig aus dem Kreise der Touristen.

Was er auch darüber denken mochte, Jack Lindsay erhob gegen dieses Vorhaben doch keinen Einspruch, und wie die andern, trieb er sein Pferd zu schnellem Gange an.

Der Weg, dem die kleine Kavalkade folgte, zog sich zwischen zwei lotrecht herabfallenden Kalksteinmauern hin.

»Zum Kehlabschneiden wie geschaffen!« murrte Roger zwischen den Zähnen.

Immerhin zeigte sich bis jetzt nichts Auffallendes. In fünf Minuten legte die Gesellschaft einen Kilometer zurück, ohne dabei einem lebenden Wesen zu begegnen.

Bei einer Biegung des Weges machten die Touristen plötzlich Halt. Ein dumpfes Getöse, ähnlich dem Murmeln einer Menschenmenge schlug ihnen ans Ohr.

»Beeilen wir uns! Schnell... schnell!« rief Roger, sein Pferd in Galopp setzend.

In wenigen Sekunden gelangte der Reitertrupp an den Eingang eines Dorfes, aus dem der Lärm heraustönte, der seine Aufmerksamkeit erregt hatte.

Das war aber wirklich ein sonderbares Dorf, denn es bestand nicht aus Häusern. Es war eine zweite Auflage von Artenara. Seine Einwohner hausten in den gleichen Kalksteinmauern wie die, die den Weg begrenzten. Augenblicklich waren diese Troglotydenwohnungen leer. Die ganze, nur aus tiefdunklen Negern bestehende Bevölkerung war auf der Straße zusammengeströmt und drängte sich unter unglaublichem Wutgeschrei umher.

Das Dorf war offenbar in Aufruhr. Doch warum? Die Touristen legten sich diese Frage gar nicht vor, ihre Aufmerksamkeit wurde vollständig durch das unerwartete Schauspiel gefesselt, das sich ihren Blicken darbot.

Kaum fünfzig Meter von ihnen entfernt, sahen sie Morgan, auf den sich die allgemeine Wut zu entladen schien. Mit dem Rücken gegen die zum Bienenstocke verwandelten Felsmauern gelehnt, stand Morgan und verteidigte sich, so gut er konnte, wobei er sein Pferd als Deckung benutzte. Das ermattete Tier[306] bäumte sich wütend, und die Hufschläge, die es nach allen Seiten austeilte, hielten einen breiten Raum um seinen Herrn frei.

Im Besitz von Schußwaffen schienen die Neger nicht zu sein. Als die Touristen aber auf dem Schauplatze des ungleichen Kampfes eintrafen, neigte sich dieser doch schon dem Ende zu, Robert Morgan wurde sichtlich schwächer. Nachdem er seinen Revolver abgefeuert und sich damit von zwei jetzt auf der Erde liegenden Negern befreit hatte, besaß er zur Verteidigung keine andre Waffe mehr als seine Reitpeitsche, deren schwerer Knopf ihm bisher genügt hatte sich zu schützen. Doch von drei Seiten gleichzeitig angegriffen, von einem Knäuel von Männern, Frauen und Kindern gesteinigt, war es zweifelhaft, ob er noch länger Widerstand leisten könnte. Schon hatte ein wohlgezielter Wurf ihn getroffen. Von der Stirne rieselte ihm Blut hernieder.

Die Ankunft der Touristen brachte ihm jetzt zwar Hilfe, doch noch keine Rettung. Zwischen diesen und Morgan wälzten sich heulend und schreiend gegen hundert Neger so aufgeregt durcheinander, daß sie die eben gekommene Truppe gar nicht bemerkt hatten.

Roger rief da, wie vor einem Regiment, alle auf jede Gefahr hin zum Angriff. Einer seiner Gefährten kam ihm jedoch zuvor.

Plötzlich stürmte aus den letzten Reihen der Ausflügler ein Reiter hervor und wie ein Blitz unter die gedrängt stehenden Neger.

Als er vorüberflog, hatten die Touristen in ihm verblüfft Mr. Blockhead erkannt, der totenbleich und mit kläglichem Angstgeschrei sich am Halse seines vor dem Lärme der Neger scheuenden Pferdes anklammerte.

Auf sein Geschrei antworteten die Neger mit Schreckensrufen. Das scheue Pferd galoppierte und sprang wie rasend in den Haufen mitten hinein und trat, wo es hinkam, alles mit den Hufen. In einem Augenblick war die Straße frei.

Alle noch unverwundeten Neger hatten, vor diesem Kriegsungewitter flüchtend, in ihren Wohnungen Schutz gesucht.

Doch nicht alle: einer von ihnen war zurückgeblieben.

Der allein, ein wahrer Riese von herkulischem Körperbau, stand mitten auf dem Wege und schien die Panik seiner Mitbürger ganz zu verachten. Fest auf den Füßen stehend, hielt er vor Morgan stolz eine Art altmodischer Flinte, ein spanisches Tromblon in der Hand, das er seit einer Viertelstunde bis zur Laufmündung mit Pulver füllte.[307]

Die alte Donnerbüchse, die jedenfalls in den Händen des Negers zerplatzen mußte, nahm er dann an die Schulter und schritt auf Morgan zu.

Roger, dem seine Gefährten folgten, war nach dem durch die glänzende Fantasia des schätzbaren Ehren-Krämers geleerten Platz geeilt, doch war es ungewiß, ob er noch rechtzeitig ans Ziel gelangen würde, den drohenden Schuß zu verhindern.

Glücklicherweise wurde er von einem Helden überholt: von Mr. Absyrthus Blockhead auf seinem tollen Pferde.

Urplötzlich befand sich dieses kaum noch zwei Schritte von dem riesigen Neger entfernt, der noch immer von der ungewohnten Handhabung seiner antiken Flinte in Anspruch genommen war. Vor diesem unvorhergesehenen Hindernis stutzte das Pferd, das sich auf seine vier Beine fallen ließ und auf der Stelle liegen blieb.

Mr. Absyrthus Blockhead dagegen setzte seine Bewegung noch weiter fort. Von seiner Hitze hingerissen und – man kann es nicht verschweigen – wohl auch ein wenig infolge der angenommenen Schnelligkeit, ließ er den Hals seines edlen Renners los und flog in herrlichem, gut berechnetem Bogen einem Geschosse gleich dem Neger mitten gegen die Brust.

Projektil und Bombardierter rollen zusammen über den Boden hin.

Gleichzeitig kamen nun aber auch Roger und seine Gefährten auf dem Platze des denkwürdigen Gefechtes an.

Im Handumdrehen wurde Blockhead emporgerissen und quer über einen Sattel geworfen, während ein andrer Tourist sich des Pferdes des abgeworfenen Reiters bemächtigte. Als Morgan auch das seinige bestiegen hatte, entwich die kleine Truppe Europäer im Galopp aus dem Negerdorfe an der entgegengesetzten Seite von der, wo sie hereingekommen war.

Kaum eine Minute, nachdem sie den so arg bedrängten Robert Morgan zuerst gewahr geworden waren, befanden sich alle in Sicherheit. Ja, diese kurze Zeit hatte für Blockhead genügt, seinen Namen in der Geschichte der Kavallerie zu verewigen, ein neues Wurfgeschoß zu erfinden und einen seiner Nächsten zu retten. Augenblicklich schien der tapfere Kriegsmann allerdings nicht in bester Verfassung zu sein. Eine heftige Gehirnerschütterung hatte ihm das Bewußtsein geraubt, das lange gar nicht wiederkommen wollte.

Sobald man sich weit genug von dem Negerdorfe entfernt hatte, um keinen erneuten Angriff befürchten zu brauchen, stiegen alle ab, und nun genügten[308] einige naßkalte Umschläge, den ohnmächtigen Blockhead wieder zu sich zu bringen. Bald erklärte sich dieser auch zum Aufbrechen bereit.

Vorher mußte er jedoch noch den Dank Morgans hinnehmen, von dem der schätzbare Ehren-Krämer – jedenfalls aus übertriebner Bescheidenheit – nichts zu begreifen schien.

Die Pferde im Schritt, umkreiste darauf die Gesellschaft eine Stunde lang den Zentralpic der Insel, den Pozzo de la Nieve oder Schneebrunnen, so genannt nach den Eisgruben, die die Kanarier an seinen Abhängen angelegt haben; dann führte der Weg über ein unebnes Plateau mit vielen kleinen Spitzbergen, den »Rocs« in der Sprache des Landes. Später ging der Ritt zwischen dem von Saucillo del Hublo, einem Monolithen von hundertzwanzig Metern, und denen von Rentaïgo und von La Cuimbre hin.

Ob ein Überbleibsel von der durch die Neger verursachten Aufregung oder nur eine Folge der Müdigkeit, jedenfalls wurden beim Passieren dieses Plateaus nur sehr wenige Worte gewechselt. Die meisten Touristen ritten gänzlich schweigend und fast in der frühern Ordnung wie beim Aufbruche dahin. Nur einzelne Glieder zeigten eine leichte Veränderung; einerseits hatte sich Saunders dem tapfern Blockhead zugesellt, und anderseits ritt Morgan jetzt mit Roger zusammen, während Alice und Dolly das zweite Glied bildeten.

Die beiden Franzosen sprachen von dem unbegreiflichen Vorfalle, der einem von ihnen beinahe das Leben gekostet hätte.

»Sie hatten völlig recht, sagte Roger, einen Hinterhalt zu vermuten, nur daß dabei die Gefahr vor uns, aber nicht hinter uns lag.

– Das ist ja richtig, antwortete Morgan. Konnte ich aber ahnen, daß man es damit auf meine Wenigkeit abgesehen hatte? Übrigens bin ich überzeugt, daß hier nur ein Zufall sein Spiel getrieben hat und daß Sie denselben Empfang gefunden hätten, wenn Sie zuerst in das Dorf der schwarzbraunen Kerle gekommen wären.

– Wie kommt denn, fragte Roger, überhaupt diese Ansiedlung von Schwarzen hier mitten in ein Land der weißen Rasse?

– Das ist, erklärte ihm Morgan, eine alte Republik entlaufener Neger. Heutzutage, wo die Sklaverei in jedem von einer zivilisierten Regierung abhängigen Lande abgeschafft ist, hat diese Republik das Recht auf ihre Existenz ja gänzlich verloren. Die Neger aber haben harte Köpfe, und die Nachkommen der ersten Ansiedler beharren noch immer bei den Sitten ihrer Vorfahren. Sie[309] leben, tief in ihren wilden Höhlen vergraben, von aller Welt fast völlig abgeschieden und zeigen sich manchmal ein ganzes Jahr lang nicht in den nahegelegenen Städten.

– Und gastfrei sind sie gerade auch nicht, bemerkte Roger lachend. Was, zum Kuckuck, können Sie ihnen denn angetan haben, die Burschen in solche Wut zu bringen?

– Nicht das geringste, versicherte Morgan. Sie mochten wohl schon erhitzte Köpfe haben, als ich in ihr Dorf kam.

– Doch aus welchem Grunde?

– Das haben Sie mir zwar nicht anvertraut, ich konnte es aber leicht aus den verletzenden Worten erraten, die sie mir gegenüber gebrauchten. Um ihre Gründe zu verstehen, muß man wissen, daß sehr viele Kanarier mit scheelem Auge die Fremden ansehen, die jährlich in zunehmender Menge zu ihnen kommen. Sie behaupten, daß von allen diesen Kranken mehr oder weniger von ihrer Krankheit auf den Inseln zurückbleibe und der Aufenthalt hier dadurch immer gesundheitsschädlicher werde. Die braunen Burschen meinten nun jedenfalls, wir wären in ihr Dorf mit der Absicht gekommen, daselbst ein Hospital, und zwar eines für Lepröse und für Schwindsüchtige, zu errichten.

– Ein Hospital! rief Roger. Wie konnten ihre Krausköpfe denn nur auf einen so hirnverbrannten Gedanken kommen?

– Den wird ihnen einer zugeraunt haben, antwortete Morgan, und da können Sie sich wohl die Wirkungen auf die mit solchen Vorurteilen vollgepfropften kindlichen Gehirne vorstellen.

– Irgendeiner? wiederholte Roger. Wen haben Sie da im Verdacht?

– Den Führer, sagte der Dolmetscher.

– Was sollte den aber dazu angespornt haben?

– Die Habgier, das versteht sich fast von selbst. Der Bursche rechnete darauf, sich wenigstens eines Teils unsrer Habseligkeiten zu bemächtigen.«

Diese Erklärung war ja recht annehmbar und jedenfalls war die Geschichte auch in der vermuteten Weise angezettelt worden. »Im Laufe der letzten Nacht wird der Führer uns diese Falle vorbereitet und die leicht erregbaren und leicht zu überlistenden Gehirne der Neger in Aufregung versetzt haben.«

Robert verschwieg noch den Anteil, den Jack Lindsay zweifellos an dem Komplotte hatte, wenn dieser dabei auch ein ganz andres Ziel als eine Beraubung verfolgte. Bei näherer Überlegung hatte sich Morgan aber vorgenommen, noch[310] nichts von seinem Verdachte gegen den Amerikaner verlauten zu lassen. Zu einer solchen Beschuldigung bedurfte es der Beweise, und die fehlten ihm ja, trotz seiner so begründeten Vermutungen. Da der Führer aber nicht zur Stelle war, sah er sich außerstande, materielle Beweise zu beschaffen. Es erschien ihm deshalb richtiger, über das ganze Abenteuer vorläufig noch zu schweigen.

Selbst im andern Falle würde er es jedoch ebenso gehalten haben. Auch dann hätte er es vorgezogen, den auf ihn gerichteten Überfall lieber unbestraft zu lassen, als eine Rache zu üben, die in gleicher Weise Mrs. Lindsay wie den wirklichen Urheber der Schandtat treffen mußte.

Während die beiden Franzosen diese interessante Frage erörterten, hatte sich Saunders des unschuldigen Blockheads bemächtigt.

»Mein Kompliment, verehrter Herr!« begann er, nachdem sich alle kaum einige Augenblicke in Bewegung gesetzt hatten.

Blockhead blieb stumm wie das Grab.

»Das war ja ein verteufelter Satz durch die Luft!« rief Saunders mit gutmütigem Spotte.

Blockhead schwieg noch immer. Saunders näherte sich mit um so größerm Interesse weiter.

»So sprechen Sie doch, werter Herr. Wie befinden Sie sich jetzt?

– Ich?... Sehr schlecht! seufzte Blockhead.

– Ja ja, das glaube ich. Ihr Kopf...

– O nein, nicht der Kopf.

– Wo fehlt es Ihnen denn anders?

– An der andern Seite, jammerte Blockhead, der mit dem Bauche fast auf seinem Pferde lag.

– An der andern Seite? wiederholte Saunders. Aha, weiß schon, weiß schon, setzte er verständnisvoll hinzu, das ist ja ganz dasselbe.

– Nein, gewiß nicht! murmelte Blockhead.

– Sapperment, fuhr Saunders auf, kommt nicht alles auf einen Fehler der Agentur Thompson hinaus? Wenn wir statt unser fünfzehn hundert gewesen wären, würde es da jemand eingefallen sein, uns anzugreifen, und hätten Sie zum Beispiel Ihre Kopfschmerzen? Wenn wir, statt zu Pferde zu sein, die uns durch das vermaledeite Programm zugesagten Träger gehabt hätten, würden Sie da... an... einer andern Stelle zu leiden haben? Ich begreife sehr gut, daß Sie entrüstet, daß Sie wütend sind über...«[311]

Blockhead fand die Kraft zu einem Proteste.

»Im Gegenteil: entzückt bin ich, lieber Herr, sagen Sie entzückt! Ja, das bin ich! murmelte er mit kläglicher Stimme.

– Entzückt! wiederholte Saunders verblüfft.

– Ja freilich, bester Herr, entzückt, versicherte Blockhead jetzt nachdrücklicher. Will einer Pferde haben... da sind sie, und Inseln mit waschechten Negern... Das ist etwas Außerordentliches, lieber Herr, etwas unbedingt Außerordentliches!«

In seiner überschwenglichen Bewunderung vergaß Blockhead alle seine blauen Flecke. Er erhob sich unklugerweise in seinem Sattel und streckte feierlich die eine Hand aus.

»Echt wie Gold, verehrter Herr, Blockhead ist echt wie Gold!... Au!« schrie er dann gleich auf, indem er glatt auf den Leib zurücksank, da ihn ein lebhafter Stich an seinen tatsächlichen Zustand erinnerte, während Saunders sich von dem unbelehrbaren Optimisten zurückzog.

Gegen elf Uhr kam man in eines der Dörfer, die sich zwischen den Vorbergen der Cuimbre eingenistet haben. Plaudernd zog der kleine Trupp hindurch, als der Weg auf einem beschränkten offenen Platz mündete, der keinen andern Ausgang hatte als den, durch den er hereingekommen war. Etwas in Verlegenheit, machte die Kavalkade Halt.

Hier mußte vor zwei Stunden bei der Gabelung der Straße unbedingt ein Irrtum untergelaufen sein, und es blieb nun nichts andres übrig, als umzukehren.

Morgan wollte sich jedoch vorher bei den Dorfbewohnern näher erkundigen. Da entstand aber eine neue Schwierigkeit. Das Spanisch Morgans erschien den befragten Bauern unverständlich, während deren Spanisch wieder Morgan ein Geheimnis blieb. Dieser zeigte sich darüber nicht weiter verwundert, da ihm die unglaubliche Verschiedenheit der Dialekte im Innern der Inseln bekannt war.

Mit Hilfe belebter Pantomimen und der Wiederholung des Wortes »Tedde«, des Namens der Stadt, wohin man sich begeben und wo man ein Frühstück einnehmen wollte, gelang es Morgan schließlich doch, ein befriedigendes Ergebnis zu erreichen. Der betreffende Eingeborne schlug sich an die Stirn, zum Zeichen, daß er verstanden hatte, worum es sich handelte, rief dann einen Jungen herbei und schärfte ihm, wie es schien, genaue Instruktionen ein, dann deutete er dem Reitertrupp an, dem neuen Führer zu folgen.


Santa-Cruz von Teneriffa aus.
Santa-Cruz von Teneriffa aus.

Zwei Stunden lang ritt die Gesellschaft hinter dem Jungen her, der leise ein Liedchen vor sich hinpfiff. Dabei ging es hier einen Weg hinauf, einen andern wieder hinunter, gelegentlich quer über eine Straße weg, später wieder auf einem Landwege weiter, und das, ohne ein Ende zu nehmen. Dennoch hätte man eigentlich schon längst am Bestimmungsorte eingetroffen sein müssen. Morgan, der sich das nicht erklären konnte, wollte nun um jeden Preis eine Erklärung aus dem jungen Führer herauslocken, als dieser – man kam eben auf eine neue Straße – fröhlich seine Mütze schwenkte und nach Süden hin wies, dann aber schnell auf einen Fußweg einbog und im Handumdrehen verschwand.

Die Touristen wußten gar nicht, woran sie waren. Was, zum Teufel, mochte der kanarische Bauer wohl verstanden haben? Doch gleichviel, hier half kein Klagen. Sie mußten weitertrotten, und taten das auch, doch nicht nach Süden, sondern nach Norden zu, in der einzigen Richtung, in der sie glaubten, auf Tedde treffen zu müssen.

Es verflossen jedoch Stunden, ohne daß sich der Kirchtum des Marktfleckens den Blicken der erschöpften und hungrigen Reisenden zeigte. Der Tag senkte sich schon zur Neige, und noch immer setzten sie ihren traurigen Marsch gleichmäßig weiter fort. Die Misses Blockhead wurden von allen bedauert. Den Hals ihres Pferdes umklammernd, ließen sie sich forttragen, ohne auch nur die Kraft zu einem Seufzer zu haben.

Gegen sechs Uhr sprachen die mutigsten Touristen schon davon, auf weitre Versuche zu verzichten und unter freiem Himmel zu nächtigen, als einzelne Häuser sichtbar wurden. Sofort trieb man die Pferde mehr an. Welche Überraschung! Vor ihnen lag Las Palmas! Nach einem schnellen Ritt durch die Stadt, kamen sie eine Stunde später auf die »Seamew«, ohne je zu begreifen, wie sie hierher gekommen waren.

Die Reisenden nahmen eiligst ihre Plätze an der Tafel ein, wo eben das Abendessen – die Hauptmahlzeit – aufgetragen wurde, und verzehrten gierig ihre Suppe. Leider herrschten die Grundsätze, nach denen seit zwei Tagen alle Speisen auf der »Seamew« zubereitet wurden, auch noch heute, und die Mahlzeit erwies sich sehr unzureichend für ihren ausgehungerten Magen.

Dieses Ungemach wurde noch leichten Herzens hingenommen; weit gewichtiger waren ja andre Dinge. Wie stand es mit der Reparatur der Maschine? Vollendet war diese gewiß noch nicht, das Geräusch von Hammerschlägen bewies das deutlich genug. Überall drang er hin, der infernalische Lärm, in den Speisesalon,[315] wo er die Unterhaltung empfindlich störte, und in die Kabinen, aus denen er den Schlaf vertrieb. Die ganze Nacht dauerte das Hämmern an und brachte die Passagiere rein zur Verzweiflung.

Bei seiner Müdigkeit gelang es Morgan doch, endlich einzuschlummern. Um fünf Uhr früh weckte ihn die herrschende Stille wieder auf. An Bord des Dampfers war alles ruhig.

Morgan kleidete sich schnellstens an und begab sich nach dem noch leeren Deck. Unter dem Spardeck standen der Kapitän Pip und der Maschinenmeister Bishop miteinander im Gespräch. Morgan wollte auf sie zutreten, um sich zu erkundigen, wie es nun mit dem Schiffe stehe, da drang ihm aber die Stimme des Kapitäns bis ans Ohr.

»Sind Sie mit allem fertig, Bishop? fragte er.

– Jawohl, Herr Kapitän, bestätigte dieser.

– Und auch mit Ihren Reparaturen zufrieden?

– Vollkommen! versicherte Mr. Bishop.«

Jetzt folgte eine Pause... Dann fuhr der Maschinenmeister fort:

»Artimon würde Ihnen, Herr Kapitän, sagen, daß man aus etwas Altem unmöglich etwas Neues machen kann.

– Ja freilich, gab der Kapitän zu. Wir können aber doch wohl abfahren, hoffe ich?

– Gewiß, Herr Kapitän, antwortete Mr. Bishop, ob aber auch ankommen...?«

Wiederum schwiegen beide, länger als das vorige Mal. Als Robert sich mehr vorneigte, sah er den Kapitän auf fürchterliche Weise schielen, wie er's immer tat, wenn ihn irgendetwas erregte. Dann kniff er sich in die Nase und sagte, die Hand des ersten Maschinisten ergreifend:

»Na, das wird eine schöne Geschichte, lieber Bishop«, und damit verabschiedete er sich feierlich von dem Deckoffizier.

Morgan hielt es für nutzlos, die bösen Voraussagen, die er unbemerkt von den beiden Seeleuten mit angehört hatte, den Passagieren mitzuteilen. Die Nachricht wegen der Abfahrt brauchte er nicht erst zu verbreiten. Die Rauchwolken, die kurz darauf aus dem Schornstein emporwirbelten, sagten das schon selbst.

Es bedurfte nichts andren als der Gewißheit baldiger Abfahrt, den General-Unternehmer vor dem siedenden Unwillen seiner Passagiere zu retten, vor einem Unwillen, der durch ein wahrhaft erbärmliches erstes Frühstück jetzt[316] nur noch gesteigert war. Dennoch protestierte niemand dagegen. Man begnügte sich, den schuldigen Direktor der Agentur unter strenger Quarantäne zu halten. Alle Gesichter heiterten sich auf, als man gegen Ende des Frühstücks die ersten Kommandos zum Abfahren hörte, die auf ein erträglicheres Mittagmahl zu hoffen erlaubten.

Quelle:
Michel Verne: Das Reisebüro Thompson und Comp. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XCI–XCII, Wien, Pest, Leipzig 1909, S. 286-289,291-297,299-301,303-313,315-317.
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